OSTEOPATHIE - KEINE PHYSIOLOGIE !

28/02/2023

Was ist die Geschichte hinter diesem Zitat von A.T. Still und spiegelt es die heutige Situation wider?

Übersetzung des englischen Originals

MEHR ALS NUR EINE ANEKDOTE

 

Ich erinnere mich, ein Zitat von A.T. Still: „No Physiology“. Aber da mir eine Referenz fehlte, zog ich immer die Möglichkeit in Betracht, dass es sich um eine fragwürdige Anekdote handeln könnte. Fragwürdig, weil in seinem Buch “Philosophy of Osteopathy” Seite 16-19 beschreibt er immerhin, was er unter Anatomie versteht. Und ganz unten auf Seite 17 erwähnt er unmissverständlich Physiologie als „ein Wissen, auf das ein Osteopath nicht verzichten und erfolgreich sein kann“ - ORIGINAL: a knowledge of which no Osteopath can do without and be a success. Also muss dieses Zitat über Physiologie anscheinend eine Stadtlegende sein, die ihr eigenes Leben lebt. Doch eines schönen Tages erwähnt Carol Trowbridge dieses spezifische Zitat in ihrem Buch „Andrew Taylor Still: 1828-1917“. Sie gibt sogar den Hinweis darauf und beschreibt klar den Kontext von Stills Worten.

 

In Kapitel „6 – The old Doctor“ erwähnt Trowbridge unter dem Untertitel „The littlejohns“, dass die Physiologie anfing, die Anatomie in die Ecke zu drängen. J.Martin bevorzugte eine breiter angelegte Osteopathie, die eher auf Physiologie als auf Anatomie gegründet war (Trowbridge, Seite 174). Trowbridge beschreibt, dass Still durch den Littlejohn-Smith Einfluss (1899) „irritiert“ wurde, was eindeutig zu einer Änderung des Konzepts innerhalb der osteopathischen Ausbildung führte. Somit machte er öffentlich bekannt, dass er damit überhaupt nicht einverstanden sei und schloss sogar mehrmals die Schule, um mit dem Personal über die Vereinbarkeit von ärztlicher Diagnostik und Osteopathie zu streiten. In diesem Zusammenhang stürmte Still zu einem bestimmten Zeitpunkt in ein Klassenzimmer und schrieb wütend an die Tafel: „no physiology“ (Trowbridge, Seite 176).

 

GESCHICHTE, DIE LAUT AN UNSERE TÜR KLOPFT (wieder mal)

 

Februar 2023, ich frage mich, in welcher Stimmung Still in diesem Moment wohl wäre. Denn wenn man sich Social Media und andere Arten von Seminarankündigungen ansieht, können wir einen neuen-alten Hype nicht leugnen: das Rennen nach physiologisches Wissen unter Osteopathen. Und mehr noch, auf Social-Media-Plattformen der osteopathischen Art wird die Bedeutung anatomischen Wissens (für Osteopathen) (von Osteopathen) in Frage gestellt. Es sollte sogar betont werden, dass einige angesehene Kollegen sich ermutigt fühlen, die frühere Littlejohn-Smith-Doktrine zu unterstützen.

 

Anatomie studiere ich seit den frühen 80er Jahren (in all ihren Dimensionen – A.T. Still, “Philosophy of Osteopathy - What I mean by anatomy”, Seite 16-19). Und seit mehr als dreißig Jahren veranstalten einige meiner Kollegen und ich Anatomieseminare, bei denen Osteopathen die Dissektion komplett von Grund auf selbst durchführen können. Wir organisieren auch andere postgraduale Seminare, einschließlich klinischer praktischer Übungen. Dabei treffen wir auf zahlreiche Kollegen und Studenten (sowohl aus Europa als auch aus Übersee), und wir können nicht leugnen, dass wir feststellen müssen, dass die Kenntnisse der Anatomie bei vielen von ihnen dürftig, wenn nicht sogar abscheulich schlecht sind! Bitte verzeihen Sie mir also, wenn ich irritiert werde, wenn ich diese neu-alte Tendenz sehe, dass die Anatomie wieder einmal zugunsten der physiologischen Indoktrination in die Ecke gedrängt wird.

 

ÜBER ANATOMIE

 

SIC TRANSIT GLORIA MUNDI

 

Ja, es wird so oft zitiert: Osteopathie ist Anatomie, Anatomie und nochmal Anatomie. Was für eine hohle Phrase, wenn man bedenkt, wie viel anatomisches Wissen viele Osteopathen haben, sicherlich jüngere Generationen! Oh ja, sie haben eine große Werkzeugtasche, die viele Techniken enthält (welche Ironie, sogar sogenannte „Still-Techniken“!! – siehe nächster Absatz). Für jedes Symptom scheint es eine Dysfunktion zu geben, und für jede Dysfunktion haben sie ein geeignetes Werkzeug, um es zu beheben. Verzeihen Sie mir meinen lateinischen Hintergrund, aber in diesem Zusammenhang fällt mir folgende Bemerkung ein: sic transit gloria mundi. Ersetzen Sie das Wort „mundi“ durch „Osteopathie“ und Sie erhalten: So geht die Osteopathie den Bach runter.

 

Hat Still uns nicht mehr als einmal gesagt, dass Symptome nur Effekte sind? Hat er jemals den Begriff „Dysfunktion“ verwendet? War er nicht dafür bekannt, keine Techniken, sondern Prinzipien zu unterrichten (Philosophy of Osteopathy, Preface, Seite 2)? Und hat er nicht gesagt, dass es bei der Osteopathie um Argumentation geht, basierend auf anatomischem Wissen? Also, wenn das alles der Fall ist (bitte lesen Sie seine Literatur!!), warum sind diese Osteopathen dann in ihrer technischen Kapazität nicht in der Lage, eine einfache Frage zu beantworten wie: Warum tun Sie das? Was ist Ihre anatomische Erklärung? Warum sind sie nicht in der Lage, diese einfachen Fragen zu beantworten, obwohl sie behaupten, Osteopathen zu sein und ihre Anatomie zu kennen?

 

DIE EIGENART DER ANATOMIE

 

Eine erste mögliche Erklärung, um die schwerwiegenden Mängel im anatomischen Wissen und ihre Folgen zu verstehen, ist die Natur dieses Wissens. Anatomie ist nicht irgendeine Anatomie. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Herangehensweise an die Erforschung von Strukturen des menschlichen Körpers verändert. Am Anfang war es die „beschreibende Anatomie“. Der Beobachter beschrieb einfach die Form der Struktur, und er/sie verwendete vergleichende Begriffe lateinischen oder griechischen Ursprungs; wenn z.B. er/sie eine Struktur sah, die einem Knoten glich, er/sie nannte es dann einfach ein Ganglion. Dies erklärt, warum der Begriff Ganglion verwendet wird, um sowohl bestimmte lymphatische als auch nervöse Strukturen zu beschreiben. Und oft verwendeten die Beobachter Adjektive, um die Topographie der Struktur zu beschreiben: z.B. Ganglion paravertebrale = ein Knoten entlang der Wirbelsäule. Alles klar und deutlich.

 

Im Laufe der Zeit, als die Betrachter begannen sich Fragen über die Bedeutung dieser Struktur für den Körper zu stellen, änderte sich dieser Ansatz von einer beschreibenden zu einer funktionellen. Die Konsequenz ist, dass sich die Nomenklatur zu vermischen begann: beschreibend (Form und Position) sowie funktionell (zB Flexor/Bieger und Extensor/Strecker).

 

Es ist interessant festzustellen, dass die Beobachter mit dem Wechsel zu einem funktionellen Ansatz begannen, sogenannte „Systeme“ zu studieren. Dabei verbanden sie bestimmte Strukturen zu einer funktionellen Einheit, wie etwa das lokomotorische System, das Nervensystem oder etwa das viszerale (Verdauungs-)System. Diese Herangehensweise kann den Studierenden helfen, sich einen Überblick in der Vielzahl unterschiedlicher Strukturen zu verschaffen. Diese Vereinfachung des anatomischen Studiums hat jedoch einen enormen Preis. Die Folge eines systemisch-funktionellen Ansatzes der Anatomie ist, dass viele Zusammenhänge nicht beschrieben und gar nicht berücksichtigt werden!

 

Lassen Sie mich dies anhand des folgenden Beispiels demonstrieren. Das Verdauungssystem enthält mehrere Organe wie zum Beispiel Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse und Darm. Die Funktion dieser Organe besteht darin, eine Mahlzeit zu verdauen. Das Bein hingegen besteht aus Knochen, Gelenken, Bändern, Muskeln und vielem mehr. Die Funktion des Knies besteht darin, das Bein zu beugen. Es gehört zum Bewegungsapparat. Eine Frage nach der Funktion (sprich „Bedeutung“) des rechten Knies für die Verdauung wird mit weit aufgerissenen Augen von „Ich-verstehe-nicht-was-du-meinst“ begegnet. Gibt es eine (funktionelle) Beziehung zwischen diesem Knie und dem Magen oder einem anderen Verdauungsorgan (oder umgekehrt)?! Antwort: nein, gibt es nicht, weil sie zu „einem anderen“ System gehören! Die Chance, diese Positions-/Funktionsbeziehung auch nur als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, kommt in den meisten Köpfen nicht vor!! Der funktionell-systemische Ansatz hat diese mögliche Betrachtung ausgeschlossen! Diese funktions-systemische Beschreibung schließt die Möglichkeit einer prinzipienbasierten anatomischen Argumentation aus, welche nun gerade die osteopathische Philosophie kennzeichnet!

 

Anatomie, ana-tomei: ihr Wesen hat dazu geführt, den Körper in einzelne Stücke zu zerlegen

die „funktionell wieder zusammengesetzt“ werden zu einer für den Schüler verständlichen mentalen Konstruktion,

was per definitionem unvollständig ist (siehe auch Daston & Galison, Objectivity, 2017).

 

Und was, im Zusammenhang mit dieser Art anatomischer Studie, mit einem anderen berühmten Zitat von A.T. Still welches von den „selbsternannten wahren Anhängern der Osteopathie“ immer noch und so oft wiederholt wird: Der Körper ist eine Einheit? Ist diese Art von anatomischen Studien nicht ein Widerspruch zu solchen Zitaten? Sogar mehr! Wenn man die Anatomie so funktionell-systemisch studiert, dass osteopathische Institutionen Jahr für Jahr beispielsweise „kranielle“ Osteopathen oder „viszerale“ Osteopathen hervorbringen, stellt sich die Frage: wozu?! Mit Sicherheit das Ende der Osteopathie! Und dann erwähne ich nicht einmal diese sogenannten „Experten der ganzheitlichen Art“. Sie veranstalten Fachseminare der stärksten anatomischen Vereinfachung. Sie schneiden den anatomischen Inhalt in noch kleinere Funktionsmodelle, ergänzt mit ausreichenden Techniken zur Symptombekämpfung. Es versetzt einer langsam sterbenden Philosophie den letzten Schlag ins Genick.

 

DIE BLINDEN UND DER ELEFANT

 

Das Studium der Anatomie in und für einen osteopathischen Referenzrahmen erfordert definitiv eine andere Herangehensweise. Es ist mehr als nur das Auswendiglernen zahlreicher Strukturen „eines bestimmten Systems“. Unabhängig von der verwendeten Sprache (Latein, Griechisch, Englisch, Französisch, …) erfordert das Studium der Anatomie, um Osteopath zu werden, einen anderen Ansatz, um die Beziehungen zwischen allen Strukturen vollständig zu verstehen. Einen anderen Ansatz um letztendlich wirklich Form & Funktion zu verstehen. Folglich kann Anatomie nicht von denen unterichtet werden, die dies nicht vollständig verstehen. Der Begründer der Osteopathie A.T. Still war sich dessen bewusst:

Autobiographie, Kapitel 12, Seite 152: Um sich für einen Beruf zu qualifizieren, muss man eine vollständige Ausbildung von Personen haben, die die Wissenschaft gründlich verstehen und wissen, wie man sie lehrt. … Sie müssen mit allem, was Anatomie bedeutet, gründlich vertraut sein – nicht nur mit den Namen einiger Knochen, Muskeln, Nerven, Venen und Arterien vertraut sein, sondern Sie müssen sie alle kennen, wie sie in den neuesten Standardautoren zu finden sind. Sie sollten mit mindestens neunzig Prozent des gesamten menschlichen Körpers vertraut sein, bevor Sie unsere Kliniken betreten. …

 

ORIGINAL: Autobiography, chapter 12, page 152: To be qualified for a profession you must have a complete training from persons who understand the science thoroughly, and know how to teach it. … You must be thoroughly acquainted with all that is meant by anatomy – not merely familiar with the names of a few bones, muscles, nerves, veins, and arteries, but you must know them all as found in the latest standard authors. You should be familiar with at least ninety per cent of all the human body before you enter our clinics. …

 

Wenn wir die Philosophie von Still angesichts der zeitgenössischen Merkmale der Anatomie studieren, müssen wir betonen, dass man, um Osteopath zu werden, nicht nur Bücher (und Sezieren!) braucht, sondern auch eine Anleitung, „wie man Anatomie studiert“. Diese Anleitung sollte nicht so sehr aus Handbüchern stammen. Diese Anleitung sollte hauptsächlich von Lehrern kommen, die die Philosophie in Theorie und Praxis vollständig verstehen. Leider können wir die Tendenz nicht leugnen, dass in vielen osteopathischen Schulen die Zeit für die anatomische Ausbildung zugunsten des endlosen Demonstrierens und Übens von Techniken auf ein „Maximum des Minimums“ reduziert wird. Diese Wahl wird oft mit dem Satz begründet: Anatomie kann man zu Hause selbst studieren, es steht alles in den Büchern. Wissen sie nicht, dass (seit fast mehr als 100 Jahren) der Inhalt in einem Großteil dieser anatomischen Bücher auf einen minimalen Zweck für medizinische Studien reduziert wurde?! Wissen sie nicht, dass in diesen Büchern etliche anatomische Strukturen nicht mehr beschrieben werden, weil sie für die Medizin nutzlos sind?! Erlauben Sie mir ein Beispiel: Pernkopf Anatomie, 1937 waren es 7 Bücher, 1994 war es nur noch 1 Buch. Wie karg die heutige anatomische Landschaft geworden ist!

 

Und wenn es noch Anleitungen gibt, sollten wir nicht blind für die Feststellung bleiben, dass der Hintergrund der meisten dieser Lehrer ein „Copy-Paste“ des medizinischen und/oder physiotherapeutischen Ansatzes der Anatomie ist! Das Unterrichten der Anatomie in einem solchen Referenzrahmen für zukünftige Osteopathen weist also darauf hin, dass sie höchstwahrscheinlich nicht mit dem vertraut sind, was Still als wesentlich für seine Osteopathie ansieht. Sie kennen sich nicht aus, weil sie höchstwahrscheinlich Stills Literatur nicht studiert haben. Und wenn doch, wurde es oft selektiv auf der Suche nach Rezepten gescannt. Rezepte, die mit vereinfachten Slogans wie „die Regel der Arterie“ (the artery rules) betitelt sind, die dann sehr oft mit sogenannten spezifischen Techniken ergänzt werden. Diese Art von anatomischem Wissen kann für den Arzt und zum Beispiel für den Physiotherapeuten oder Chiropraktiker geeignet sein. Es ist jedoch unzureichend und für zukünftige Osteopathen nicht verwendbar. Aber wie so oft gilt im Land der Blinden der/die Einäugige als König/Königin; selbst wenn dieses eine Auge schielt. Vanitas Vanitatum und Omnia Vanitas; Anatomielehrer der zukünftigen Osteopathen, bitte denken Sie nach, bevor Sie handeln!

 

EIN LEBENDIGES BILD DER ANATOMIE

 

Der Begriff eines „lebendiges Bildes der Anatomie“ wird häufig von A.T. Still verwendet. Ein Beispiel:

Philosophie der Osteopathie; Kapitel 2, Seite 42: … , wir sollten uns ein lebendiges Bild von den Formen jedes Knochens machen, wie und wo er mit anderen artikuliert, wie er durch Bänder verbunden ist, welche Blutgefäße, Nerven und Muskeln ihn kreuzen oder in Längsrichtung mit ihm verlaufen, denn wenn Sie einen kleinen Nerv und ein Blutgefäß übersehen, so kann es sein, dass Sie einen Kropf nicht entfernen, und alle Krankheiten … .

 

ORIGINAL: Philosophy of osteopathy; Chapter 2, page 42: … , we should keep a living picture of the forms of each bone, how and where it articulates with others, how it is joined by ligaments, what blood vessels, nerves and muscles cross or range with it lengthwise, because to overlook a small nerve and blood vessel you may fail to remove a goitre, and all diseases… 

 

Eine Frage, die meine Kollegen und mich sehr lange beschäftigt hat, ist: Was könnte er mit „lebendiges Bild der Anatomie“ gemeint haben? Auf der Suche nach der Antwort haben wir tief in seiner Literatur gegraben und viele Stunden damit verbracht, die verschiedenen Begriffe die er verwendet hat, zu diskutieren. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Antwort in einer tiefen Einsicht in die Einheit von „Form & Funktion“ liegt. Wenn wir nach einer Definition für die (anatomische) Form suchen, können wir sie so formulieren (Höppner, Leben als Verb, Kapitel 2):

 

Form ist die Folge ihrer Strukturen und ihrer positionellen Relationen

in einem bestimmten Umgebungskontext.

 

Konsequenz – Das erste Merkmal, das wir in dieser Definition sehen, ist, dass eine Form eine Konsequenz ist. Eine Folge von was? Sie ist eine Folge der Wechselwirkung zwischen der Form (ihren Strukturen und deren positionellen Relationen) einerseits und den Umgebungsbedingungen andererseits. Wir können diese Folge auch als Ergebnis einer Balance zwischen Belastung (dem Umgebungseinfluss/Stress) und der Belastbarkeit (den Strukturen und ihren positionellen Beziehungen) beschreiben. Oder mit anderen Worten: Die Umgebungsbedingungen stellen eine Belastung für bestimmte Strukturen und deren positionellen Relationen dar. Diese Strukturen und ihre positionellen Relationen können und werden diesem Umgebungseinfluss widerstehen. Folglich befindet sich die Form in einem Zustand, der durch eine gewisse Spannung gekennzeichnet ist. Es ist ein (momentaner) Seinszustand.

 

Struktur – Wenn wir die Natur dieser Spannung untersuchen, ist es wichtig zu betonen, dass zwei Hauptmerkmale eine wesentliche Rolle spielen: die Strukturen und ihre positionellen Relationen. Der menschliche Körper enthält viele Strukturen, sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch. Ein Mangel an anatomischen Kenntnissen in all diesen Dimensionen schränkt bereits ein erforderliches Wissen und Einsicht in diese Eigenschaft ein (A.T. Still, Philosophy of osteopathy, Seite 16-19!). Leider können wir nicht leugnen, dass die meisten Osteopathen, sicherlich der jüngeren Generation, in einem einzigen makroskopischen Bezugsrahmen verbleiben! Folglich sind sie selektiv blind und daher nicht in der Lage, die Bedeutung der submikroskopischen Dimension der Physiologie in einem makroskopischen Kontext vollständig zu verstehen! Ihnen fehlen einfach die dimensionalen und relationalen Verbindungen! Sie springen nicht von einer Dimension in die andere (was Sie tun können – siehe Definition von Form), stattdessen springen sie über mehrere Dimensionen gleichzeitig, als könnten sie die Natur und den Ursprung eines vollständigen Ozeans durch das Studium von einem einzigen Tropfen Wasser erfassen!

 

Solche großen Sprünge zu machen, weil man nicht weiß, was dazwischen liegt, führt zu unvollständigen und sogar falschen Schlussfolgerungen. Die Literatur z.B. im cranio-vertebro-sacralen und viszeralen Bereich ist leider voll von diesen Dimensionssprüngen, die zu fragwürdigen Beschreibungen von z.B. der sogenannten Mobilität oder Motilität führen: die Nieren steigen auf (aufgrund welcher anatomischen Argumente?); die Leber rotiert nach rechts (was ist mit der Vena cava und Vena porta?), die Flexion-Extension in der Synchondrosis spheno-basilaris (verknöchert dieses Gelenk nicht immer?); … usw. usw. usw..  Anatomisch, in allen Dimensionen betrachtet, machen viele dieser Beschreibungen, oft in Form von Modellen, keinen Sinn, weil der Bezugsrahmen einfach falsch ist, egal wer die Bücher geschrieben hat (lese bitte mal andere Literatur)!

 

In vergleichbarer Weise hat Rudolf Virchow (einer der Begründer der „modernen“ Medizin) die Komplexität des Menschen auf eine einzige Zelle reduziert, als er 1858 sein Konzept der „zellulären Pathologie“ veröffentlichte. Er führte zahlreiche mikroskopische Beobachtungen durch und glaubte, er könne die Essenz von Krankheiten erkennen. Irgendwie war er davon überzeugt, dass er die Essenz einer bestimmten Pathologie erfassen konnte, indem er strukturelle Veränderungen in der Dimension der Zelle beschrieb. Dieses Konzept grenzt die Komplexität menschlicher (Dys-)Funktionalität auf eine einzige Dimension ein welche die Vielzahl der Beziehungen nicht mehr repräsentiert. Es ist ein klares Beispiel für reduktionistisches Denken – wenn schon von Denken überhaupt. Durch die Übernahme eines solchen Ansatzes in die Ausbildung von Osteopathen lässt diese reduktionistische Vereinfachung des Wissens keinen Raum für die osteopathische Philosophie. Mehr noch, es hat überhaupt nichts mit dem osteopathischen Konzept zu tun (siehe auch unten: Beispiel Fettverdauung)!

 

Der menschliche Körper ist durch viele Strukturen gekennzeichnet und das Studium der Anatomie sollte nicht nur in einem Zweig stattfinden. Neben der makroskopischen Dimension sollte sie auch im Bereich der Histologie, Zytologie und (Bio)Chemie untersucht werden (A.T. Still, Philosophy of Osteopathy, Seite 16-19). Ist es also nicht ratsam, mit dem Studium der ersten strukturellen Bestandteile eines Organismus zu beginnen? Ist es nicht ratsam, mit den ersten elementaren Bausteinen des menschlichen Körpers zu beginnen: Wasser, Matrix, Zellen und Fasern? Diejenigen unter Ihnen, die auch mit jenem Zweig der Anatomie, der Histologie, vertraut sind, werden die elementaren Strukturen des Bindegewebes erkennen. Trotz des Begriffs „Binde-gewebe“ ist dieses Gewebe mehr als nur verbindende Strukturen unterschiedlicher Art und Herkunft. Es ist auch DER Umgebungsraum, in dem physiologische Prozesse ablaufen, während es gleichzeitig struktureller Bestandteil anderer Formen wie Organe ist. Ist es folglich nicht ratsam, alle verschiedenen Strukturen und positionellen Relationen der menschlichen Form zu studieren und vollständig zu verstehen, BEVOR wir die zahlreichen physiologischen Details studieren, die in einem funktionalen Kontext beschrieben werden? Ist es nicht ratsam, zuerst darüber nachzudenken, was die Natur der Funktion ist? Der Begriff „Funktion“ wird so oft und so einfach und in so vielfältigen Bedeutungen verwendet! Ist es nicht mehr als ratsam, darüber (zumindest zweimal) nachzudenken? Wenn Sie dies jedoch tun möchten, wie kann dies möglich sein, wenn Sie nicht wissen, um welche Strukturen es sich handelt??!! Wie kann dies möglich sein, wenn Sie durch Ihr anatomisches Wissen nur auf eine (oft makroskopische) Dimension beschränkt sind?!

 

Positionelle Relation – Ein weiteres wesentliches Merkmal ist die Tatsache, dass diese elementaren Strukturen positionellen Relationen haben. Wasser und Matrix sind eine Lösung im flüssigen Zustand, ein Fluidum, und die positionellen Relationen zwischen den Molekülen ergeben eine funktionelle Eigenschaft: die Fähigkeit, äußeren Einflüssen zu widerstehen. In der Physik wird dieses Phänomen Viskosität genannt (Resnick & Halliday, Physics 1, Kapitel 17 & 18, 1966). Eine ähnliche funktionelle Eigenschaft lässt sich bei den Strukturkomponenten Zelle (= Turgor) und Faser (= Tension) beobachten. Es gibt auch eine vierte Ausdrucksform des Widerstands gegen Umgebungseinflüsse, die Malleabilität genannt wird. Es ist eine Situation, in der alle Strukturkomponenten (Wasser, Matrix, Zelle, Faser) einen Teil des Widerstands liefern (folglich hat die Form im Falle der Malleabilität die höchste Dichte – siehe unten).

 

Mit der Definition und Beschreibung der Form im Hinterkopf (siehe oben) kommen wir der Natur dessen, was Funktion ist, sehr nahe.

 

Funktion ist die Kapazität, Umgebungseinflüssen zu widerstehen,

was zu der Fähigkeit führt, die ursprüngliche Form beizubehalten.

 

Hinweis: Einige Kollegen werden dies als Verhalten definieren. Die Umwandlung in eine Funktionsdefinition hängt von den spezifischen Merkmalen der Umgebung und der Art der positionellen Relationen ab. Diese Eigenschaften geben dem Verhalten einen bestimmten Ausdruck, der unter diesen Umständen so spezifisch ist.

 

Die Form ändert sich erst, wenn der Widerstand, der von den Strukturen und ihren positionellen Relationen ausgeht, durch die Umgebungsbedingungen überwunden werden kann. Damit ändert sich auch die Funktion. Diese Veränderung in Form & Funktion wird als „Outside-Inside-Phänomen“ definiert (Blechschmidt, Anatomie und Ontogenese des Menschen, 1978; Höppner, Life as a Verb, 2022).

 

Resilienz – Jede Form befindet sich also in einem Spannungszustand. Dies sollte nicht als Problem an sich betrachtet werden, denn es gibt eine weitere Eigenschaft, die wir beobachten können: Resilienz. Diese Eigenschaft zeigt uns, dass jede Form in der Lage ist, die positionellen Relationen zwischen Strukturen gleicher Art intern neu zu organisieren, ohne dass dies unmittelbare Folgen für die Form als solches hat – die äußeren Eigenschaften ändern sich weder sofort noch automatisch unter dem Einfluss der Umgebung. Hier müssen wir jedoch aufpassen! Denn das stimmt nicht ganz. Weil es sich immer ändern wird, aber es zu bemerken, hängt davon ab, in welche Dimension wir schauen – und wir sollten nicht vergessen, dass Zeit dimensionsbezogen ist, was bedeutet, dass es je nach Dimension, in die wir schauen, mehr oder weniger Zeit braucht, bevor wir die Veränderung beobachten können! Es kann also sein, dass sich die Form einer Zelle vorübergehend nicht ändert, aber in der darunter liegenden Dimension, der Dimension von Wasser und Matrix als Flüssigkeit, beobachten wir Änderungen in den positionellen Relationen. Dieses Phänomen wird physiologisch als „Stoffwechsel“ bezeichnet. Und weil sich die Form der Zelle nicht ändert, obwohl darunter Veränderungen stattfinden, definieren wir diese Zelle als in einem Zustand dynamischen Gleichgewichts. Es ist dieses Phänomen, das das Leben (als Verb!) charakterisiert:

 

Der Stoffwechsel kann als grundlegender Ausdruck des Lebens angesehen werden,

als ein Zustand dynamischen Gleichgewichts.

 

Die Fähigkeit und Kapazität jeder Form, Umgebungseinflüssen zu widerstehen und sich intern zu reorganisieren (Resilienz), ist eine grundlegende Funktionseigenschaft jeder Form. Es ist ein funktionelles Merkmal, das jede Form zu einer lebendigen, reagierenden Einheit macht. Eine Einheit, die durch ihre spezifischen Strukturen und deren positionellen Relationen geprägt ist – in allen Dimensionen!

 

Diese Strukturen zu sehen, diese positionellen Relationen zu sehen und ihre Bedeutung zu verstehen, macht anatomische Strukturen zu „lebendigen Bildern“. Um diese lebendigen Bilder sehen zu können, bedarf es eines anderen Ansatzes unseres anatomischen Studiums. Es erfordert das Verständnis, dass makroskopische anatomische Strukturen wie Knochen, Nerven, Gefäße, Organe etc. unterschiedliche Dichten aufweisen. Unterschiedliche Dichten bedeuten unterschiedliche Widerstandseigenschaften, unterschiedliche Texturen. Unnötig zu sagen, aber ich möchte darauf hinweisen: das kann man nicht aus Büchern lernen; es erfordert Seziererfahrungen Þ also, es ist NICHT alles in den Büchern vorhanden, bei weitem nicht!! Unterschiedliche Funktionsmerkmale basieren auf der Art der Strukturen und ihrer proportionalen Darstellung innerhalb der Form. Dies erfordert eine anatomische Kenntnis aller Dimensionen. Und es bedeutet auch, zu wissen, wie diese Strukturen makroskopisch und mikroskopisch dreidimensional räumlich ausgerichtet sind. Diese Eigenschaft der räumlichen Ausrichtung resultiert aus einer tiefen Einsicht in die positionellen Relationen zwischen den Strukturen (Bücher + Sezieren!). Die Kenntnis dieser Ausrichtungen hilft uns, die Richtungsmerkmale innerhalb einer Form zu erkennen. Das Wissen und die Einsicht in Textur und Richtung als spezifische Merkmale einer Form schafft ein lebendiges Bild der Anatomie, das uns die Fähigkeit und Kapazität jeder Form zeigt, mit den belastenden Umgebungsbedingungen umzugehen.

 

WO PASST DIE PHYSIOLOGIE EIN?

 

Aus Carol Trowbridges Buch verstehen wir, dass A.T. Still bei weitem nicht begeistert von der Verschiebung war, die im Lehrplan „seiner“ Schule stattfand. Im Herbst seines Lebens (in seinen Siebzigern) hatte er noch genug Energie, um auf die Barrikaden zu gehen, um die Grundlagen seiner kostbaren Philosophie zu verteidigen. Und dabei ist es ihm gelungen, das zu bewahren, was er vielleicht am Ende seines Lebens gemeint haben könnte: „keep it pure boys“.

Das lässt uns also mit der Frage zurück: Was und wo passt das Wissen der Physiologie in den Lehrplan eines Osteopathen?

 

Physiologie; Ein kurzer Besuch bei Wikipedia gibt uns eine Definition:

 

    • Aus dem Altgriechischen: phusis (Wesen, Ursprung) + logia (Studium) – die wissenschaftliche Erforschung von Funktionen und Mechanismen in einem lebenden System.
    • Eine Teildisziplin der Biologie. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Organismen, Organsysteme, einzelne Organe, Zellen und Biomoleküle in einem lebenden System chemische und physikalische Funktionen erfüllen.
    • Von zentraler Bedeutung für die physiologische Funktion sind biophysikalische und biochemische Prozesse, homöostatische Kontrollmechanismen und die Kommunikation zwischen Zellen.
    • Ein physiologischer Zustand ist der Zustand normaler Funktion im Gegensatz zu einem pathologischen Zustand, der sich auf anormale Zustände bezieht, einschließlich menschlicher Krankheiten.

LASS UNS CHEMISCH GEHEN

 

Aus der Definition der Physiologie lernen wir, dass das Studium der Funktion eines Organismus zwei Aspekte hat. Es gibt den chemischen und den physikalischen Aspekt. Beide haben ihre Bedeutung, und beide sollten gut verstanden werden. Doch was fällt uns auf, wenn wir uns den Lehrplan zu diesem Teilgebiet der Anatomie genauer ansehen? Nicht wenige Lehrer der Physiologie, sowohl in der Osteopathen-Grundausbildung als auch in postgradualen Seminaren, scheinen erpicht darauf zu sein, Studenten und Teilnehmer mit den zahlreichen Details chemischer Prozesse, die im menschlichen Körper ablaufen, umzuhauen. Wenn man diese Lehrer miteinander vergleicht, scheint es, als würden sie darum wetteifern, wer die Schüler/Teilnehmer zuerst niederschlägt und schließlich den Preis, der für Osteopathen am wenigsten verständlichen Autorität in Physiologie gewinnt. Das mag auf den respektvoll reagierenden Lehrling beeindruckend wirken, wirft aber dennoch Fragen nach der Effizienz für die spätere praktische Anwendung auf.

 

Einige Studenten und Teilnehmer kennen vielleicht letztendlich die kleinsten biochemischen Details, die in einer Zelle, einem Gewebe und einem Organ stattfinden. Trotzdem gelingt es ihnen allzu oft nicht, den Zusammenhang mit dem Physikalischen herzustellen, jener Aspekt der ihre tägliche Arbeit prägt! Der physikalische Aspekt ist der manuelle Bezugsrahmen des Osteopathen. Osteopathen versuchen, die Spannung (und mehr – siehe später) zu identifizieren, die das Problem des Patienten verursacht. Unser manueller Ansatz kann diese Spannung erkennen. Aber dieses Werkzeug ist für die Chemie nicht ausreichend, es kann keine Konzentrationsgradienten messen. Wie schlägt man also eine Brücke zwischen Chemie und Physik? Der Mehrheit der Physiologielehrer, die ich getroffen habe (und es ist mehr als einer!), fehlt diese Einsicht eindeutig. Und zu diesem Schluss komme nicht nur ich. In Gesprächen und Diskussionen mit vielen Osteopathen verschiedener Generationen und Länder wird deutlich, dass auch sie zu dem Schluss kommen, dass hier etwas fehlt. Ja, es gibt einige wenige Ausnahmen von der Regel, einige Lehrer können diese Brücke zwischen Chemie und Physik schlagen. Für eine Mehrheit ist dies jedoch offenbar nicht der Fall. Das mag hart klingen, und einige Leser könnten sich sogar beleidigt fühlen. Sollte aber letzteres der Fall sein, dann denken Sie bitte erst einmal darüber nach, denn es handelt sich lediglich um eine nicht zu leugnende Feststellung in der täglichen Praxis. Schießen Sie nicht auf den Boten, sondern versuchen Sie, die Antwort auf die Frage zu finden, die so viele unerfahrene Lehrlinge auf den Lippen haben, und die sich nicht zu fragen trauen: Wie schlägt man für Osteopathen eine Brücke zwischen Chemie und Physik?

 

GEHEN WIR PHYSIKALISCH

 

A.T. Still macht es uns in seiner Literatur nicht leicht. Ja, wie in der Definition der Physiologie (siehe oben) spricht auch er von „normal“ und „abnormal“. Aber in seinem rhetorischen Stil verbirgt er fast, was er mit diesen beiden Eigenschaften des Menschen meint. Okay, auch ohne die Bücher von Still zu konsultieren, in einem chemischen Referenzrahmen scheint es verständlich zu sein. Wir haben messbare chemische Werte. In diesem Zusammenhang haben wir eine Spanne festgelegt, in der wir den Wert als normal erachten. Jeder niedrigere oder höhere Wert gilt als abnormal. Aber was ist mit dem physischen Teil der Geschichte? Dieser Teil ist bei den Labordozenten der medizinischen Art nicht enthalten – auch hier spreche ich aus eigener Erfahrung. Wir fragen uns, zu welchem Zweck wir diese Werte auswendig lernen, wenn wir diese Informationen nicht mit der physikalischen Natur unseres Berufs in Verbindung bringen können. Lassen Sie uns noch einmal betonen, dass unser manuelles Werkzeug nicht in der Lage ist, chemische Werte zu messen. Und selbst wenn wir einen chemischen Test verlangen könnten, nachdem wir Körperflüssigkeiten in ein Labor geschickt haben, was macht man mit diesen Ergebnissen in der Praxis? Können wir diese chemische Tatsache in einen physikalischen Referenzrahmen (der Spannung) übersetzen? Und wie sollen wir in diesem Rahmen normal und abnormal definieren? Wie können wir in einem so physikalisch geprägten osteopathischen Kontext normal und abnormal beschreiben?

 

DER BEGRIFF DES MUSTERS

 

Leider, meiner Meinung nach, ist Still für viele Leser in seiner Literatur nicht immer rhetorisch deutlich in der Definition dessen, was normal und abnormal ist. Leider, meines Erachtens, bedarf es neben einem intensiven Studium seiner Literatur auch zusätzlicher Quellen, die nicht direkt von seiner Hand stammen. Beispielsweise in einem Absatz von R.E. Beckers Buch “The Stillness of Life”findet sich ein Zitat von A.T. Still das etwas Licht ins Dunkel bringen könnte. Becker gibt uns Stills Zitat in Bezug auf das, was Still selbst in seiner Autobiographie auf Seite 148-149 geschrieben hat (… I hope all who may read after … (till) … one eternal law of life and motion). Das Zitat lautet wie folgt (Becker, Ann Arbor Seminar, Seite 3-4):

 

Dann sagt Dr. Still: „um (eigene?) Gesetze zu machen oder bereitzustellen ohne Muster“. Ein gesunder Zustand ist ein Zustand ohne Muster. Wenn Sie ein Muster haben, haben Sie eine Spannung, eine Krankheit oder ein Problem. Wenn du kein Problem hast, es gibt kein Muster. …“

ORIGINAL: Then Dr. Still says, “to make or furnish laws of self without patterns. A healthy state is a state of no pattern. If you’ve got a pattern, you’ve got a strain, a disease, or a problem. If you haven’t got a problem, there’s no pattern. …”

 

Dieses Zitat öffnete einigen Kollegen und mir die Tür zu weiteren Diskussionen und schließlich zu einem Verständnis dessen, was er mit normal und abnormal gemeint haben könnte. Im Allgemeinen sowie im physiologischen Kontext. Der Schlüssel in Stills Zitat, der das Rätsel gelöst hat, ist der Begriff „Muster“. Dieser Begriff war anfangs ein vieldiskutierter Begriff (und ist es für manche Kollegen heute noch). Was ist mit Muster gemeint? Die Antwort auf diese Frage liegt in der weitgehenden Kenntnis und Einsicht in Bezug auf die Form, insbesondere die lebendigen Bilder der Anatomie.

Mal sehen, was Still dazu zu sagen hat:

 

A.T. Still, Autobiographie, Kapitel 1, Seite 13: „… Wir lehren Sie Anatomie in allen ihren Zweigen, damit Sie die ganze Zeit ein lebendiges Bild vor Ihrem Geist haben und behalten können, …; … Ich fühle mich frei, meinen Schülern zu sagen, halten Sie Ihren Geist die ganze Zeit voller Bilder des normalen Körpers, während Sie die Betroffenen behandeln. …“

ORIGINAL: A.T. Still, Autobiography, chapter 1, page 13: “We teach you anatomy in all its branches, that you may be able to have and keep a living picture before your mind all the time, …; … I feel free to say to my students, keep your minds full of pictures of the normal body all the time, while, treating the afflicted. …”

 

Still sagt uns, dass wir Formbilder benötigen, die uns nicht nur die strukturellen Komponenten zeigen, sondern auch die positionellen Relationen (Texturen und Ausrichtungen) zwischen ihnen. Er sagt uns, dass wir in der Lage sein sollten, die Fähigkeit und Kapazität einer Form zu visualisieren, den Umwelteinflüssen zu widerstehen. Er fordert uns auf, die Fähigkeit der Resilienz zu visualisieren, die mit einer bestimmten Spannung einhergeht. Still sagt uns also, was wir brauchen, um das Normale zu erkennen. Aber was ist mit dem Abnormalen?

 

Die Antwort auf das Abnormale liegt im Begriff „Muster“ und seiner Definition. Unter Muster ist die (sequentielle) Wiederholung einer Reihe bestimmter Strukturen zu verstehen. Die Wiederholung von Strukturen, die durch die gleiche Textur gekennzeichnet sind, die sich aus ihren positionellen Relationen ergibt. Es ist die Wiederholung von Strukturen, die zu einer bestimmten Ausrichtung führt. Eine Ausrichtung, die uns eine bestimmte Richtung zeigt. Eine Richtung, die jede Form als Antwort auf zunehmenden Stress aus der Umgebung nutzen kann. Eine zunehmende Belastung, die sich in einer Richtungscharakteristik ausdrückt. Eine Richtungscharakteristik, die als der Weg des geringeren Widerstands definiert werden kann. Es ist eine Reaktion der strukturellen Komponenten der Form und ihrer positionellen Relationen, um mit der Belastung fertig zu werden, die nicht durch eine einzelne Beziehung bewältigt werden kann. Eine Belastung, die nur bewältigt werden kann, wenn die Last auf mehr als eine positionelle Relation zwischen Strukturen gleicher Art verteilt wird. Eine Belastung, die durch eine zunehmende Anzahl von Beziehungen bewältigt werden kann, was zu einer höheren Belastbarkeit führt. Oder wie die Belgier sagen würden: l’union fait la force.

 

Spannung ist ein normales Merkmal jeder Form. Ein Spannungsmuster ist etwas anderes. Es ist anders, weil es einen größeren Einfluss auf die Eigenschaften einer Form (Textur und Ausrichtung) hat. Ein Spannungsmuster könnte als normal angesehen werden, da es Teil der Antwort darauf ist, wie die Form mit den Umgebungsbedingungen umgeht. Die Richtungseigenschaften dieser Spannungsart haben jedoch eine Konsequenz für die Zukunft, nah und/oder fern. Es ist die Tatsache, dass diese Richtung in die spezifischen Eigenschaften der Form einprägt wird. Mit anderen Worten: Das Spannungsmuster reorganisiert die positionellen Relationen zwischen den Strukturen. Und das führt dazu, dass bestimmte Richtungscharakteristiken zu dominieren beginnen. Es führt zu einem Verlust der Richtungsfreiheit. Es führt zu einem Verlust der Resilienz einer Form.

 

DIE PHYSIKALISCHE AUSWIRKUNG – DYNAMISCHES GLEICHGEWICHT UNTER BELAGERUNG?

 

Wenn wir uns mit den Bedingungen chemischer Reaktionen befassen, stellen wir fest, dass der Begriff Permeabilität ein wichtiges Merkmal ist. Je höher die Permeabilität, desto leichter können die chemischen Reaktionen ablaufen. Vor allem der „Transport“ von Chemikalien im Raum. Ein Transport wird als Veränderung der positionellen Relationen beschrieben (Widerstände müssen überwunden werden!). Eine Veränderung wie die Bewegung von Molekülen zur und von der Zelle sowie innerhalb der Zelle. Diese Bewegungen charakterisieren ein Phänomen, das als Stoffwechsel bezeichnet wird. Unverkennbar können wir feststellen, dass dieser Stoffwechsel direkt von der Permeabilität der Region abhängt, in der die Bewegung stattfindet. Unverkennbar können wir feststellen, dass eine enge Beziehung zwischen dieser Permeabilität und der Dichte des Raums (texturbezogen) besteht, in dem dieser Stoffwechsel stattfindet. Mit anderen Worten: Je geringer die Dichte, desto höher die Permeabilität, desto mehr Stoffwechsel. Und: Je höher die Dichte, desto geringer die Permeabilität, desto weniger Stoffwechsel. Das ist Physik und Chemie in der logischsten Rhetorik.

 

Folglich stellt sich die Frage, was eine Belastung (physikalisch) und erst recht ein Spannungsmuster für den Stoffwechsel (chemisch) eines Organismus bedeuten könnte? Was kann ein Spannungsmuster für das dynamische Gleichgewicht eines Organismus wie einer Zelle, eines Gewebes, eines Organs oder sogar eines ganzen Organismus bedeuten?

 

Grundlegende Kenntnisse in Chemie und Physik zeigen uns, dass eine Spannung die Dichte und folglich die Permeabilität des Raums, in dem die Spannung vorhanden ist, verändert. Mit anderen Worten: eine Spannung ist sehr wohl in der Lage, den metabolischen Ausdruck eines dynamischen Gleichgewichts zu verändern. Es wird zu einem metabolischen Ausdruck unter Belagerung. Dass eine Spannung zu einer Veränderung des Stoffwechselverhaltens führt, dürfte offensichtlich sein. Es führt jedoch nicht zwangsläufig zu Beschwerden oder Krankheiten! Vergessen wir nicht, dass es die Eigenschaft der Resilienz gibt. Diese Eigenschaft ermöglicht es jeder Form, auf die Umgebungsbedingungen zu reagieren, ohne als „abnormal“ definiert zu werden. Chemisch ausgedrückt: Eine Spannung beeinflusst die Chemie eines Organismus, aber selbst eine Änderung des Konzentrationsgradienten (chemische Werte) stellt eine gewisse „Normalität“ dar.

 

Wenn die Belastung so zunimmt, dass sie zu einem Spannungsmuster wird (Richtungsabweichung hin zu weniger Widerstand), ändern sich die Bedingungen für den Stoffwechsel dramatisch. In diesem Moment erreicht das Stoffwechselphänomen die Grenzen des Normalen. In diesem Moment wird der veränderte Stoffwechsel zu klinischen Anzeichen. Diese klinischen Zeichen sind nicht nur durch eine Veränderung des Stoffwechsels (Funktion) gekennzeichnet, sondern auch durch eine Veränderung der Strukturkomponenten in ihren positionellen Relationen (Form).

 

DAS BELASTUNGSMUSTER – DIE WÄCHTER

 

Beim Studium der Physiologie stolpern wir über das Kapitel der Kommunikationssysteme (siehe frühere Definition von Physiologie). Was tatsächlich beschrieben wird, ist die Auswirkung einer chemischen Wechselwirkung innerhalb einer bestimmten Region des Organismus auf eine andere Region desselben Organismus. Die (physikalische) Essenz dieser Beschreibung liegt innerhalb des „Parameters Raum“, der zwischen den beiden Regionen vorhanden ist. Ist die Distanz sehr gering, wird der Autor das chemische Ereignis als autokrine oder parakrine Kommunikation beschreiben. Sobald die Entfernung größer wird, wird die Interaktion als telekrine Kommunikation bezeichnet. Bitte beachten Sie bei dieser telekrinen Art der Kommunikation, dass je nach Transportstruktur die Kommunikation als endokrin oder neurokrin (bzw. flüssig als Strom in einer Röhre bzw. flüssig als Strom im Fortsatz einer Zelle) definiert wird.

 

Anmerkung zur endokrinen Kommunikation: Es wird deutlich, wie detailliert (= begrenzt) und chemisch die Brille der Wissenschaft geworden ist. Jeder, der sich mit Physiologie beschäftigt hat, wird auf den Begriff endokrin sofort an Hormone denken (Moleküle, chemische Substrate eines Stoffwechselvorgangs). Aber was ist damit, dass diese sogenannten Hormone durch Flüssigkeit transportiert werden müssen, um an einen bestimmten Ort zu gelangen?! Spielt das keine große Rolle?! Vor allem wenn man bedenkt, dass der venöse Blutfluss durch ein Spannungsmuster (Resnick & Halliday, Physics 1, Kapitel 17 & 18, 1966) in seinen hämodynamischen Eigenschaften beeinflusst werden kann, wenn die Richtung des Musters die Strömung kreuzt! Und lassen Sie keinen Zweifel daran, dass das gleiche „Prinzip“ auch für die Funktion eines Nervs gilt (axoplasmatischer Transport bestimmter Chemikalien, die in der Neurophysiologie Neurotransmitter statt Hormone genannt werden)!!

 

Die chemische Wechselwirkung zwischen bestimmten Regionen, nah oder weit entfernt, hängt vom Faktor der Permeabilität ab. Mit anderen Worten: Wie viel Widerstand wird dem Transport einer chemischen Information entgegengebracht? Ein Transport, der (irgendwann) von der Flüssigkeit des Bindegewebes bereitgestellt wird. Ein Transport, der durch den Dichtegrad (Gel-Sol-Phase des Bindegewebes) bestimmt wird. Eine Dichte, die durch die Spannung bestimmt wird, die sich aus den positionellen Relationen zwischen den Strukturen in dieser Region ergibt. Und bitte beachten Sie, dass die Spannung in Beziehung zu jeder Art von Bindegewebsstruktur stehen kann. Es muss also nicht sein, dass, weil wir hier von Permeabilität (Flüssigkeit) sprechen, die Spannung z.B. nicht in den Fasern zu lokalisieren ist. Eine zunehmende Spannung (Widerstand) in der Dimension der Fasern (Tension) führt zu einem Flüssigkeitsausstoß in diesem Bereich, was folglich zu einer Änderung der Dichte und Permeabilität führt!

 

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Spannung als physikalisches Ereignis einen Einfluss auf den Stoffwechsel in dem Raum hat, in dem die Spannung auftritt. Sobald wir es mit einem Spannungsmuster zu tun haben, haben wir es mit einer neuen Situation zu tun: Richtungseigenschaften der trajektoriellen Art. Der Begriff „trajektoriell“ bedeutet, dass nun eine „Hauptrichtung“ in Raum und Zeit vorhanden ist. Diese Hauptrichtung hat einen steuernden Einfluss auf das Stoffwechselgeschehen. Das Volumen des Raums, in dem der Stoffwechsel beeinflusst wird, hängt von der Anzahl der Strukturen und positionellen Relationen ab, die von den trajektoriellen Eigenschaften des Spannungsmusters betroffen sind.

 

Wir haben bereits gesehen, dass ein Spannungsmuster den Stoffwechsel in sogenannte klinische Anzeichen umwandelt. Diese klinischen Anzeichen können als Wächter verstanden werden, die uns vor zukünftigen Pathologien und anderen Ausdrucksformen von Beschwerden und Krankheiten warnen. Diese klinischen Anzeichen, diese Wächter werden uns sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Leider bemerken viele Kollegen (sicherlich jüngere Generationen) diese Zeichen nicht, wenn sie ihre Patienten beobachten. Stattdessen sieht es so aus, als wären sie Experten darin geworden, Flaggen in verschiedenen Farben zu pflanzen: grün, orange und rot. Anstatt diese Wächter zu identifizieren und ihre Bedeutung für den Patienten zu verstehen, verbringen sie viel Zeit damit, die Farben zu zählen, bevor sie sich an den „osteopathischen Teil“ machten. Man fragt sich, welche Kurse sie besucht haben. Im Ernst, wer organisiert diese Art von Unterricht für zukünftige Osteopathen? Wer hat so wenig Vertrauen in die Expertise der osteopathischen Grundlagen? Was macht sie so unsicher, dass sie verzweifelt an fremden Ufern einen sicheren Hafen suchen, bevor sie ihre Reise fortsetzen? Es stellt sich die Frage, was sie im Kontext der Osteopathie studiert haben?

 

Es stellt sich die Frage: Haben sie A.T. Stills Literatur nicht gelesen? Denn wenn sie es getan hätten, hätten sie dann genug Anleitung erhalten, um ein Experte für Form & Funktion, in Krankheit und Gesundheit zu werden? Ja. Anders als ein Mediziner aber deswegen weder besser noch schlechter! Wenn sie Stills Literatur gründlich studiert hätten, wäre ihnen sicherlich die Bedeutung dieser Wächter aufgefallen – denen sogar manche Mediziner keine Beachtung schenken! Und selbst wenn sie Stills Literatur gelesen haben (A.T. Still, The philosophy and mechanical principles of osteopathy, chapter III – Mission of the doctor, page 72), wie kommt es, dass so oft und so viele diese Veränderungen in der Form & Funktion ihrer Patienten nicht bemerken? Es scheint, als schalten sie ihr Radio ein, stellen aber nicht die richtige Frequenz ein, um die Botschaft des Senders zu hören, der die Stoffwechselmelodie mit falsch gestimmten Instrumenten spielt. Wie es scheint, verwenden sie in den meisten Fällen nur ihren begrenzten makroskopischen anatomischen Referenzrahmen! Einige Osteopathen der jüngeren Generation werden sich (im Laufe der Zeit und oft lange nach dem Abschluss) der Bedeutung bewusst, diese klinischen Anzeichen zu erkennen. Und hey, sie beginnen sogar zu verstehen, dass diese klinischen Anzeichen einen Stoffwechsel ausdrücken, der unter Belagerung steht. Aber leider scheinen sie, wie so oft, nicht in der Lage zu sein, die physikalischen Aspekte zu sehen oder den Zusammenhang herzustellen, weil ihnen die erforderlichen und ach so wichtigen anatomischen Kenntnisse fehlen, die Still immer wieder betont! Wo sind/waren ihre Lehrer?!  (A.T. Still, Autobiography, Kapitel 12, Seite 162)

 

IST ES WIRKLICH SO SCHWIERIG?

 

SYMPTOM, KLINISCHES ZEICHEN = DYSFUNKTION = TECHNIK ?

 

Es sieht so aus, als ob unser lieber Andrew eine Kristallkugel gehabt haben muss. Oder etwas Vergleichbares. Oder ist es einfach von allen Zeiten? Jedenfalls widmet er in seiner „Philosophie der Osteopathie, Seite 205“ dem Titel “Mental degeneration makes it unpleasant for the original thinker”. Dabei macht er uns darauf aufmerksam, dass wir darauf achten sollten, keine Zeit und Mühe an jene Kollegen zu verschwenden, die die Abkürzung gewählt haben. Er gibt uns den Rat, weiterzumachen, indem er die Fakten und Daten der Osteopathie zeigt – in der Hoffnung, dass einige von ihnen ihre Augen und Ohren für die Fakten der Vernunft öffnen werden.

 

Lieber Andrew, hast du eine Ahnung, wie groß die Masse an Kollegen inzwischen geworden ist? Vor allem die Kollegen, die die Abkürzung „Symptom-Dysfunktion-Technik“ zu bevorzugen scheinen, weil sie offenbar nicht bereit sind, sich die Mühe zu machen, Anatomie in allen Dimensionen zu studieren. Sie sind nicht bereit, die intellektuelle Anstrengung auf sich zu nehmen, sich über die Bedeutung der Anatomie Gedanken zu machen, weil sie allzu oft davon überzeugt sind, dass die Formel [medizinische Ausbildung/Physiotherapie + einige osteopathische Techniken]gleichbedeutend ist mit [jetzt bin ich Osteopath]. Und das, obwohl Sie, mein lieber Andrew, uns aufgefordert haben, es anders zu machen:

 

A.T. Still, Autobiography, Kapitel 12, Seite 162, … Osteopathie kann nicht nur durch Bücher vermittelt werden. Es kann auch nicht zu einer intelligenten Person gelernt werden, die die Anatomie sowohl aus Büchern als auch aus Sektionen nicht vollständig versteht. … Er handelt nicht aus Vernunft, weil er nicht genug Anatomie kennt, um daraus zu folgern. … Es ist die Philosophie der Osteopathie, die der Operateur braucht; daher ist es unabdingbar, dass Sie diese Philosophie kennen, sonst werden Sie kläglich scheitern und nicht weiter als die Quacksalberei von „Hit and Miss“ kommen. ….

ORIGINAL: A.T. Still, Autobiography, chapter 12, page 162, … Osteopathy cannot be imparted by books only. Neither can it be thought to a person intelligently who does not fully understand anatomy both from books and dissection. …He does not act from reason, because he does not know enough anatomy to reason from. … It is the philosophy of osteopathy that the operator needs; therefore it is indispensable that you know this philosophy or you will fail badly and get no further than the quackery of “hit and miss”. ….

 

Ja, das Konzept der „Symptom-Dysfunktion-Technik“ lässt sich ganz einfach in der Praxis anwenden. Und das ist nicht nur ein modernes Phänomen, sondern ein Phänomen aller Zeiten (z.B. E.F. Ashmore, Osteopathic Mechanics, Kirksville, 1915). Was auch immer der reduktionistische Mainstream propagieren mag, es ist nicht das, worum es in der Osteopathie geht! Und das kommt nicht von mir, sondern von A.T. Still. Und ungeachtet dessen, was einige Kollegen, einige Schulräte oder Berufsverbände behaupten mögen, dass „die Osteopathie (von Still) veraltet ist, sie hat sich weiterentwickelt“, sind die Prinzipien sowie die Grundlagen der Anatomie (einschließlich der Physiologie) von allen Zeiten und genau. Oder was kommt als nächstes, dass die Schwerkraft nicht mehr existiert, weil schau doch mal, wir können zum Mond fliegen? Prinzipien sind elementar, mein lieber Watson, elementar!

A.T. still, The Philosophy and Mechanical Principles of Osteopathy, Seite 62, … Unsere Wissenschaft ist jung, aber die Gesetze, die das Leben bestimmen, sind so alt wie die Stunden aller Zeiten. …

ORIGINAL: A.T. still, The Philosophy and Mechanical Principles of Osteopathy, Page 62, … Our science is young but the laws that govern life are as old as the hours of all ages. …

 

Hinweis: Einige Schulen und Berufsverbände betrachten Philosophie sogar als nicht wissenschaftlich. Es ist ein weiteres Argument von ihnen, dass A.T. Stills Schriften nicht mehr aus dieser Zeit stammen. Sie bezeichnen das Lesen seiner Literatur als Zeitverschwendung, ganz zu schweigen vom Studium seiner Philosophie. Ich frage mich wirklich, ob sie die Bedeutung der Philosophie verstehen. Mehr als scheinbar nicht! Sie sehen nicht, dass es zwei Arten von Wissenschaft gibt: die Syllogistik und die Numerik. Sie erkennen nicht, dass die Philosophie die älteste Wissenschaft ist und die Regeln des Denkens hervorgebracht hat. Es sind die Regeln, um zu einer schlüssigen Schlussfolgerung zu gelangen, welche ebenfalls in der jüngeren numerischen Wissenschaft verwendet werden. Es ist ihnen offensichtlich nicht bekannt. Sie scheinen nur eine Sprache zu kennen, die Sprache der Zahlen (auch ohne Argumentation), und das reicht ihnen, um A.T. Still als „nicht mehr von dieser Zeit“ zu bezeichnen, eine Zeit wo alles „evidence-based-science“ sein muss. Bitte bedenken Sie, dass der höchste akademische Grad, den eine Person als Auszeichnung und Anerkennung durch die Wissenschaft erlangen kann, der Ph.D. ist. Kennen diese verehrten Kollegen von Gremien in Schulen und Berufsverbänden überhaupt die Bedeutung dieser Abkürzung?! Ist ihr herablassendes Urteil über die Philosophie nicht eine „contradictio in terminis“?! Also, wer bezeichnet hier A.T. Stills Wissenschaft als „Ph.oolishe.D.“?

 

PHYSIOLOGIE IN EINER OSTEOPATHISCHEN PERSPEKTIVE

 

Die Physiologie ist für jeden Osteopathen ein wichtiger Zweig der Anatomie, daran besteht kein Zweifel. In einem Bezugsrahmen der vereinfachten Art im Quadrat, [Symptom = osteopathische Technik]2, kann die Physiologie jedoch nicht das so dringend angeforderte Wissen liefern, um die Lücken für das praktische Versagen einiger Osteopathen zu füllen. Schon gar nicht, wenn zwischen dem Wissen um zahlreiche chemische Reaktionen und der physikalischen (technischen) Arbeit des Handwerkers kein Zusammenhang besteht. Also, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wäre es nicht viel befriedigender, nicht mehr von Technikkurs zu Technikkurs zu rennen, wo man, „Technik-Variations-Nummer-124bis“ lernt zu kopieren, ergänzt mit einer sogenannten physiologischen Erklärung der unzusammenhängenden Art? Könnte es nicht befriedigender sein, innezuhalten, sich hinzusetzen, Anatomie der Lebendigen-Art zu studieren und sich die Frage zu stellen: Wie kann sich ein Spannungsmuster durch bestimmte klinische Anzeichen/Symptome/Pathologien ausdrücken? Wie können wir durch Argumentation (mit anatomischen Argumenten!) verstehen, was die wahre Bedeutung einer Spannung für die Beschwerden unseres Patienten ist?

 

Wir haben bereits festgestellt, dass ein Spannungsmuster Auswirkungen auf den Stoffwechsel der Zelle, des Gewebes, des Organs und sogar des gesamten Organismus hat. Und solange der Ort des Spannungsmuster mit dem Ort des Symptoms, klinischen Zeichens oder sogar der sogenannten Dysfunktion übereinstimmt, werden die Osteopathen der reduktionistischen Natur glücklich und überzeugt sein, dass sie es richtig gemacht haben, dass sie die besten sind, weil sie die Ursache für den Effekt (Symptom) gefunden haben. Aber sagen Sie mir, wenn sie so überzeugt sind, es richtig gemacht zu haben, warum rennen sie dann immer noch von Seminar zu Seminar, um die „fehlende Technik“ für dieses spezielle Symptom zu finden, wo es halt nicht gut funktioniert hat? Haben sie sich nicht gewundert und gefragt, wie es möglich ist, dass diese Technik bei diesen Lendenschmerzen und nicht bei diesen funktioniert?! Haben sie sich nicht gefragt, wie es möglich ist, dass ein Kollege eine unverständliche Kopf- oder Bauchmassage macht und dadurch die Kreuzschmerzen verschwinden? Glauben sie wirklich, dass die Antwort darin liegt, dass sie diese oder jene bestimmte Technik (noch) nicht kennen? Wenn letzteres der Fall wäre, sollte diese(r) Osteopath/in, anstatt mehr Zeit und Geld für zusätzliche Kurse aufzuwenden, nicht besser zu seinen/ihre Lehrern zurückgehen und eine Rückerstattung verlangen, weil sie bei deren Versuch, einen richtigen und vollständigen Osteopathen auszubilden, gescheitert sind? Noch einmal möchte ich, dass der Leser auf die folgenden Worte von A.T.Still aufmerksam wird:

Philosophie der Osteopathie, Vorwort, Seite 2, … In dieser Arbeit ist es mein Ziel, Prinzipien so zu lehren, wie ich sie verstehe, und keine Regeln. Ich weise den Schüler nicht an, einen bestimmten Knochen, Nerv oder Muskel für eine bestimmte Krankheit zu drücken oder zu ziehen, aber ich hoffe, durch ein Wissen über das Normale und Abnormale ein spezifisches Wissen für alle Krankheiten zu vermitteln. … Jedes hier niedergelegte Prinzip wurde von mir ziemlich gut getestet und hat sich als wahr erwiesen. …

ORIGINAL: Philosophy of Osteopathy, Preface, page 2, … It is my objective in this work to teach principles as I understand them, and not rules. I do not instruct the student to punch or pull a certain bone, nerve or muscle for a certain disease, but by a knowledge of the normal and abnormal, I hope to give a specific knowledge for all diseases. … Every principle herein laid down has been fairly well tested by myself, and proven true. …

 

Anstatt also nach einer anderen neuen Technik zu suchen, um das Problem zu lösen, wie wäre es, wenn Sie sich die folgende Frage stellen: Könnte es sein, dass das Spannungsmuster in einem anderen Teil des menschlichen Körpers lokalisiert ist? Also nicht im selben Raum, in dem wir das Symptom/klinische Zeichen finden? Könnte es sein, dass das Symptom tatsächlich nur einen Effekt ist, wie Still behauptet? Ein Effekt, der als Stoffwechselereignis unter Belagerung durch ein Spannungsmuster zu verstehen ist? Ja, ein Fettstuhl ist ein klinisches Zeichen dafür, dass die Physiologie der Fettverdauung gestört ist. Ja, es könnte ein Hinweis darauf sein, dass irgendwie die Gallenblase beteiligt sein könnte. Aber bedeutet das automatisch, dass die sogenannte „viszerale Dysfunktion“ im Raum der Gallenblase oder vielleicht der Leber liegen muss? Darüber hinaus könnte es richtig sein, dass unser physiologisches Wissen uns sagt, dass es ein spezifisches Hormon namens CCK-PZ gibt, das die Sekretion von Galle beeinflusst, oder Secretin, welches den Stoffwechsel der Leber bei der Produktion von Galle beeinflusst. Aber bedeutet das klinische Zeichen wirklich, dass a priori mit der Schleimhaut des Zwölffingerdarms funktionell etwas nicht stimmt? Sind wir wirklich davon überzeugt, dass in diesem Kontext physiologischer Erkenntnisse eine spezifische „Zwölffingerdarm-Technik“ die viszerale Dysfunktion lösen und das klinische Symptom verändern wird? Wenn dem so ist, warum dann nicht immer – um nicht zu sagen ausnahmsweise nur ab und zu? Fehlt uns eine adäquate Technik oder fehlt es einfach an anatomischen Kenntnissen? Es ist so offensichtlich, dass diese Osteopathen nicht sehen, dass die physiologischen Kommunikationssysteme in verschiedenen Teilen des Körpers lokalisiert sein können. Was ist also mit diesem Slogan „Der Körper ist eine Einheit“, wenn diese Osteopathen nicht verstehen, dass diese Kommunikationssysteme regelmäßig weit weit entfernt von dem Ort des eigentlichen Stoffwechsels sind, der (per Fernsteuerung) in ein klinisches Zeichen und sogar ein Symptom oder eine Pathologie geändert werden kann! Der Einfluss eines Spannungsmusters auf die Durchblutung und Innervation von Geweben, Organen und sogar des gesamten Organismus ist nicht zu unterschätzen! Vor allem wenn man bedenkt, dass bestimmte Spannungsmuster, eine Spannungsabweichung durch ausgerichtete Strukturen, den Verlauf von Blutgefäßen (Venen!) und Nerven kreuzen können. Das fehlende Wissen und Verständnis dieser sogenannten anatomischen Zielzonen der Spannung (Kreuzungspunkte von Mustern) kann durch eine bestimmte Technik nicht kompensiert werden. Und auch nicht durch eine Zunahme an chemisch gefärbten physiologischen Wissens, egal von wie vielen molekularen Details wir sprechen!

 

SCHLUSSFOLGERUNG

 

Wir müssen uns darüber einig sein, dass wir die Art der Annäherung zu den Grundlagen des osteopathischen Berufsstandes nicht zustimmen müssen. Anatomie, Histologie, Zytologie, (Bio-)Chemie und ja auch Physiologie enthalten viele Informationen, die mit anderen medizinischen und paramedizinischen Berufen geteilt werden. Aber es ist der Unterschied in der Herangehensweise, es ist der Unterschied in der Verbindung der Einzelheiten, es ist die Philosophie von A.T. Still welche bestimmt, wie wir diese Fakten und daten betrachten und damit umgehen sollten. Dieses Wissen in einer „Copy-Paste“-Formel von Medizin und Paramedizin (z.B. Physiotherapie) darzustellen, ist für Osteopathen nicht brauchbar. Leider ist dieses Copy-Paste-Verhalten in den meisten Instituten, die Wissen unter zukünftigen (und gegenwärtigen) Osteopathen verbreiten, zum Mainstream geworden. Die Folge ist, dass jedes Jahr Osteopathen mit einer medizinisch/physiotherapeutischen Denkweise, bewaffnet mit einem Werkzeugkasten sogenannter osteopathischer Techniken, diese Institutionen absolvieren. Einige Institutionen profitieren sogar von dieser Situation und bieten zusätzliche Programme an, um die therapeutischen Lücken zu schließen. Diese Mängel sollten jedoch nicht in den schlechten Fähigkeiten der Hand, sondern in der schlechten Argumentation des Gehirns gesucht werden. Eine unzureichende Argumentation, die aus einem Mangel an (anatomischen) Kenntnisse resultiert!

 

Viele osteopathische Schulen sowie Berufsverbände zeigen ein deutliches Kopierverhalten. Sie kopieren Vorlagen, die in medizinischen und paramedizinischen Einrichtungen üblich sind. Daraus sind sogenannte kraniale Osteopathen, viszerale Osteopathen, pädiatrische Osteopathen usw. hervorgegangen. Sollte es nicht das Ziel sein, Osteopathen auszubilden, die im kranialen Bereich, im viszeralen Bereich, im pädiatrischen Bereich... im Bereich des Menschen als Ganzes arbeiten zu können?! Wie kann sich jemand auf ein bestimmtes Menschengebiet spezialisieren, wenn er/sie die Form & Funktion des Ganzen nicht vollständig versteht?! Spezialisierung ohne breite Basis, wozu?! Osteopathen der Gegenwart und der Zukunft benötigen ein breites Wissen über Form & Funktion in allen Dimensionen, bevor sie sich mit spezifischen Aspekten des Menschen befassen.

 

Osteopathie: keine Physiologie? Nein. Physiologie ist ein wichtiger Zweig des Curriculums für gegenwärtige und zukünftige Osteopathen. Aber wie A. T. Still erwähnte, sollte es verboten werden, wenn es auf eine Weise präsentiert wird, die dem Osteopathen in seinem/ihrem Verständnis von Form & Funktion nicht entspricht. Und das ist unbestreitbar allzu oft der Fall, sowohl in der Grundausbildung als auch in postgradualen Seminaren. Es entspricht nicht, weil die Vorlesungen die Verbindung zwischen der Physiologie und den anderen Dimensionen unseres anatomischen Menschen nicht herstellen. Allzu oft fehlt es den Dozenten an grundliegenden Kenntnissen und Einblicken in die menschliche Anatomie. Die meisten Dozenten kennen Anatomie nur aus Büchern und haben wenig oder gar keine Sektionserfahrung (nur schauen zählt nicht!). In den meisten Fällen haben sie es im altmodischen „ana-tomei“-Stil gelernt, wie er in Medizin und Paramedizin verwendet wird (funktionelle Anatomie zählt nicht!). Da sie die Literatur von Still nicht oder kaum gelesen haben (Hörensagen zählt nicht!), können sie nicht angesehen werden als jemanden der mit der osteopathischen Philosophie voll vertraut ist. Welchen Zweck hat ihr Wissen also, wenn der so erforderliche philosophische Kontext nicht vorhanden ist?

 

Viel mehr Zeit und Mühe sollten in das Studium und die Diskussion der osteopathischen Philosophie investiert werden. Es sollte mehr Zeit und Mühe in das Studium und die Diskussion investiert werden, um die Prinzipien der Natur vollständig zu verstehen, die trotz der Behauptung einiger selbsternannter Autoritäten alles andere als veraltet sind. Anstatt die Anzahl der Techniken zu erhöhen. Anstatt den manuellen Ansatz bis zur Lächerlichkeit zu „perfektionieren“. Anstatt Zeit durch endlose Wiederholungen zu verschwenden. Anstatt von Seminar zu Seminar zu rennen in der verzweifelten Hoffnung, die „fehlende osteopathische Technik“ zu finden. Anstatt uns in endlosen Details der Chemie zu verlieren. Stattdessen … es wäre viel nützlicher für den zukünftigen Osteopathen, diese Zeit zu nutzen, um über die Philosophie von A.T. Still und wie all dieses Wissen in das Verständnis der menschlichen Form & Funktion passt, nachzudenken. In Gesundheit und Krankheit. Auf eine Weise, die sich so sehr von Medizin, Physiotherapie, Chiropraktik usw. unterscheidet, dass wir zustimmen müssen, dass wir uns in der Art und Weise, wie wir denselben Menschen betrachten, nicht einig sind. Das eine ist nicht besser oder schlechter als das andere, aber es ist anders. Das sollten wir akzeptieren und unseren eigenen Weg gehen! Wenn Sie unbedingt von der Ärzteschaft anerkannt werden möchten, dann beginnen Sie bitte mit dem Medizinstudium. Wenn Sie als Osteopath anerkannt werden möchten, dann beginnen Sie bitte mit dem Studium der Osteopathie.

 

Das Hin- und Herlaufen zu bestimmten sogenannten Fachseminaren, sei es der technischen oder neu-altmodischen physiologisch/klinischen Indoktrination, macht wenig bis gar keinen Sinn. Es macht wenig bis gar keinen Sinn, solange der Dozent nicht mit allen Zweigen der Anatomie vertraut ist, wie Still so oft in seiner Literatur feststellt. Weder ein neues manuelles Vorgehen noch eine chemisch gefärbte Physiologie füllen die Wissenslücken des Osteopathen über Form & Funktion, solange er nicht sieht, wie Strukturen und ihre positionellen Relationen in „lebendigen Bildern der Anatomie“ visualisiert werden können. Bilder des Normalen, die dem Osteopathen helfen, das Abnormale zu verstehen. Ein geführtes Studium durch Lehrer, die die Bedeutung davon vollständig verstehen, ist mehr als erforderlich. Anstelle von Lehrern, die eine gewisse Hands-on-Demonstration der dysfunktionalen Art perfektioniert haben. Ausbilder, die dies nicht erkennen und anerkennen können oder wollen, übersehen ihre Verantwortung und dessen Wirkung für die Zukunft der Osteopathie. Wenn man sich anschaut, was die Osteopathie heute geworden ist, sieht sie ihre Zukunft bei weitem nicht vielversprechend aus. Im Gegenteil.

 

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Hinweis zum Bild: Das Bild wurde aus redaktionellen Gründen horizontal um 180° gedreht.

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